Anthroposophie
Glaube oder Wissenschaft
Ein persönlicher Beitrag
von Urs Weth
Edition Wirkstatt
INHALTSVERZEICHNIS
DIE FORSCHUNGSMETHODE | 6
VERÄNDERUNG DES GESAMTEN WELTBILDES | 7
DAS DENKEN ALS URKRAFT | 9
VOM OBJEKT ZUM SUBJEKT | 11
DER WEG ZUR INNEREN FREIHEIT | 13
JEDER SIEHT SICH GERNE ALS ZENTRUM DER WELT | 15
POLARITÄTEN SIND IDEEN | 16
DAS ERWACHEN IM HÖHEREN ICH | 17
ICH UND EGO SIND NICHT DASSELBE | 19
DER WEG ZUR SELBSTERKENNTNIS | 21
DIE WIDERSACHER | 22
ANTHROPOSOPHIE ALS EIN ERKENNTNISWEG | 23
ERKENNTNISSE ALS PERSÖNLICHE ERLEBNISSE | 25
GEDANKEN ZUR ENTWICKLUNG DES MENSCHEN | 26
EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT | 27
KEINE NEUEN DOGMEN SCHAFFEN | 28
ABSCHLUSS | 30
DIE FORSCHUNGSMETHODE
Mit einer Betrachtung über die Anthroposophie als Weltanschauung wird man dem Wesentlichen ihrer selbst nicht gerecht. Über das Wesentliche muss aber gesprochen werden, wenn man die Grundimpulse verstehen will. Die Anthroposophie muss als reales »Wesen« erfasst werden. Will man über dieses »Wesen Anthroposophie« reden, so kann man nicht über die Inhalte geisteswissenschaftlicher Forschung sprechen, kann nicht nur über die Ergebnisse solcher Forschung sprechen, sondern muss vor allem über deren Forschungsmethode sprechen.
Ebenso wenig erfasst man das Wesen der Naturwissenschaft (und das ist der denkende Geist, welcher forscht), wenn man nur über deren Inhalte und Forschungsergebnisse alleine spricht. Dieses Wesen drückt sich – nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend, mehr als im bloßen Inhalt – unmittelbar in der Forschungsmethode aus. Wenn die Forschungsmethoden der Naturwissenschaft darinnen bestehen, die Welt im vermittelst durch technische Apparaturen verstärkten Sinne zu sehen (Mikroskope etc.), dann wird das Forschungsergebnis ein auf Differenzierung und Zergliederung oder Zerteilung basiertes sein. Was die Forscher so entdecken sind zwar Verfeinerungen der sinnlichen Materie, aber sie bleibt Materie. Mit vollem Recht nennt man deshalb diese Methode eine Materialistische. Der Inhalt der Forschung wird also durch solche Forschungsmethoden immer ein materieller bleiben, weil deren Instrumente nichts anderes als Materie zu erfassen vermögen. Diese Ergebnisse sollen keinesfalls geschmälert werden und können sehr wertvoll sein, sie beleuchten aber immer nur die sinnliche Seite der realen Welt, jener von Raum und Zeit beschränkten Realität. Die Forschungsinhalte selber bedingen aber zwangsläufig die geistige, denkende Durchdringung durch den Menschen. Ohne diese Durchdringung des Geistes sind sie uns unzugänglich. An diesem Punkt setzt die anthroposophisch orientierte geisteswissenschaftliche Forschungsmethode an.
Die Anthroposophie muss als reales »Wesen« erfasst werden.
VERÄNDERUNG DES GESAMTEN WELTBILDES
So wird sich der Charakter jeglicher Disziplin der Wissenschaften, sei dies in der Medizin, in der Biologie, in der Chemie, der Pädagogik, den Sozialwissenschaften usw. grundlegend verändern, wenn der Aspekt des Betrachters mit einfließt. Nicht dadurch, dass die sinnlichen Inhalte der Naturwissenschaft geleugnet werden wird er verändert, sondern in der Art und Weise, dass diese sinnlichen Inhalte ergänzt werden durch die seelisch-geistige Tätigkeit des denkenden Betrachters. Bis hinein in die Landwirtschaft, in die Künste oder der Politik wird der Standpunkt der Betrachtung sozusagen erhöht und ergänzt durch diesen zusätzlichen Blickwinkel.
Was man durch das Experiment z.B. physikalisch herausfindet, wird nicht dementiert von der anthroposophischen Betrachtungsweise, aber es wird in andere, übergeordnete Zusammenhänge gestellt, womit ihre Wichtigkeit verändert wird. Das Verständnis dieser Darstellung verlangt allerdings den Abschied von einem materialistischen Weltbild. Bleibt man am materialistischen Dogma hängen, werden solche Erklärungen nicht von Nutzen sein.
Ein aktuelles Beispiel wäre die Erforschung des menschlichen Lebens von der wissenschaftlichen Seite her betrachtet. Da stellt es sich so dar, dass in der embryologischen Entwicklung des Menschen immer wieder versucht wird, eine Grenze zu setzen, wo das Leben beginnt und der Mensch wirklich Mensch ist. Man meint, dass vor dem dritten Schwangerschaftsmonat das Kindlein noch «wertlos», das heißt auch «geistlos» sei, und man es daher bis zu dieser Zeit ohne Gewissensnot töten (abtreiben klingt schöner) könne.
Ein aktuelles Beispiel wäre die Erforschung des menschlichen Lebens von der wissenschaftlichen Seite her betrachtet.
Würde man aber Einblick haben in die geistige Seite einer menschlichen Individualität, so würde man vielleicht entdecken, dass dieser «kleine Zellhaufen» eine fertige Individualität ist, welche sich eine geistige Entwicklung auf dieser Erde erhofft.
Mag man nun dieser oder anderer Meinung sein: An diesem Beispiel sieht man doch deutlich, wie wesentlich der Standpunkt ist, von welchem aus man die Dinge zu betrachten vermag. Je nachdem entscheiden die Kenntnisse höherer Gesichtspunkte über Leben und Tod. Die Arroganz vieler, die Materie als die einzige Realität anzuschauen, wird von ihrem denkenden Vermögen, welches auch dann geistig ist, wenn sie selber nicht daran glauben, selbst widerlegt!
DAS DENKEN ALS URKRAFT
Die Entdeckung des sich selbst gewahrenden menschlichen Denkens als Urkraft aller Forschung muss der Schlüssel, das Nadelöhr sein zur geistigen Welt: «Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins (oder forschenden Denkens)* mit sich selbst»: So heißt der Untertitel eines revolutionären Buches, welches 1894 von Rudolf Steiner veröffentlicht wurde. Er ist mit diesem Werk («Philosophie der Freiheit») zum Inaugurator einer »Anthroposophie« geworden, welche von ihm als möglicher gangbarer Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen gegeben wurde, was er in später folgenden Werken immer mehr vertiefte und konretisierte.
Man kann sich ja fragen, ob denn da überhaupt noch etwas übrigbleibt, wenn man diese Dinge im menschlichen Denken ausschließt.
Über dieses Buch befragt, schrieb er in einem Brief an Rosa Mayreder am 4.11.1894 folgendes: »Ich lehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint, auch die Form der Gedanken... Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit empor ringenden Seele zeigen. Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen (Dogmas)*. Man muss selbst sehen, darüber zu kommen... Ich bin meinen (eigenen Weg) gegangen, so gut ich konnte. Hinterher habe ich diesen Weg beschrieben... Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen. Durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet... Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst, dass man da ist. Vielleicht ist überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Ergebnis des Einzelnen» (Briefe Bd. II; GA 39)
Natürlich ist es nicht nur über das Denken alleine möglich, den Zugang zur geistigen, übersinnlichen (oder auch untersinnlichen) Welt zu erlangen, der Welt der Kräfte (und Ur-Impulse), sondern auch über die Gefühle und Taten. Nur bleiben die Wahrnehmungen dort zunächst unbewusst und können nicht begriffen werden, nicht in die Begrifflichkeit hineinkommen, wenn sie nicht vom denkenden Bewusstsein begleitet werden. Aber gerade heutzutage, in einer Zeit der Begriffe und des Beweisens, muss der forschende Geist den Weg zunächst über dieses Denken suchen. Aber dieses Denken muss geläutert werden, es muss befreit werden von den vorgeformten und fixierten Strukturen, muss befreit werden von auswendig gelernten, leeren Inhalten, über die intellektuellen Bücherweisheiten und rein interpretierenden Verknüpfungen, Assoziationen und Abstraktionen hinaus. Es muss darüber hinauswachsen, um alles Dogmatische zu überwinden. Das Schimpfen über das Dogma des Anderen nützt wenig, wenn man an dessen Stelle ein Neues setzt... und schlimmer noch, wenn man es selber nicht merkt!
Man kann sich ja fragen, ob denn da überhaupt noch etwas übrigbleibt, wenn man diese Dinge im menschlichen Denken ausschließt. Und diese Frage ist sehr wohl berechtigt! Was ich als «Normalsterblicher» im Allgemeinen weiß, ist doch zum größten Teil aus der Kiste der Bücher, bei Google und aus vielen anderen Medien entnommen. Nicht umsonst leben wir im «Informationszeitalter», im Zeitalter des Internets und der globalen Vernetzung. «Information ist alles», wird zuweilen lautstark propagiert...
VOM OBJEKT UND SUBJEKT
...und doch ist es nicht alles: Denn genau an diesem Punkt beginnt unsere Freiheit, wenn es denn überhaupt eine gibt. Es kann ja nicht von einem freien Willen gesprochen werden, wenn der Geist unter dem Joch der Bücherweisheit, der bloßen Information oder anderen dogmatischen Quellen steht. Niemand kann mir sagen, ob das Gelernte und Gelesene oder Gehörte auch stimmt, oder sich in 50 Jahren schon wieder völlig absurd anhört! Unsere Zeit beruht auf einem undurchsichtigen Glaubensboden, welcher eigentlich nur auf Sympathie oder Antipathie gegenüber den Inhalten beruht, aber im Grunde vollkommen spekulativ und persönlich bleibt. Kann denn eine solche Subjektivität überwunden werden? Gibt es denn noch die wirklich objektiven Erkenntnisse, könnte man etwas provokativ fragen?
Man kennt sie selbstverständlich in der Mathematik oder besser in allem Mathematischen, diese Objektivität. Rechnen lernen kann man nicht durch das Auswendiglernen von Zahlen. So würde man nie zu Lösungen kommen. Rechnen erfordert «logisches Denken». Aber es gibt neben diesen beiden beschriebenen Arten des Denkens – der logisch-formalen und der subjektiv-persönlichen – noch eine Dritte.
Etwas ausschließlich Objektives entbehrt allem Persönlichen. Es kann auch ebenso gut von Maschinen und Computern übernommen werden. Diese Welt der reinen Logik entbehrt den menschlichen Geist, wenngleich dieser Geist Anteil haben kann an der logischen Welt, so kann diese aber andererseits auch durchaus ohne ihn existieren. Mathematische Gesetzmäßigkeiten haben auch ihre Gültigkeit ohne ihn.
Genau umgekehrt verhält es sich mit dem bloßen Glaubenssatz. Er hat eine subjektiv-persönliche Prägung und nimmt wenig oder gar keinen Anteil an einer objektiven Welt. Wenngleich er auch Teil dieser Welt sein kann, so ist dies doch nicht zwingend. Der Glaubensinhalt braucht das subjektiv geprägte menschliche Gefäß, um existieren zu können.