So schlecht ging es den Vögeln noch nie
Jeder achten Art weltweit droht das Aussterben, zeigt ein neuer Bericht. Letzte Hoffnung vieler Experten ist das globale Naturschutzabkommen, das im Dezember verhandelt werden soll.
Thomas Krumenacker
Publiziert: 03.10.2022, 05:59
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Einst weitverbreitet in der Schweiz, heute nur noch seltener Durchzügler oder Wintergast: Der Raubwürger ist hierzulande als Brutvogel verschwunden.
Foto: Michael Gerber, Birds-online.ch
In diesen Tagen tauchen sie wieder in grossen Schwärmen am Himmel auf: Gänse, Kraniche und Stare machen sich in eindrucksvollen Trupps auf den Weg in ihre südlichen Überwinterungsgebiete. Doch der Eindruck der Vogelmassen trügt: Überall auf der Erde gehen die Vogelbestände so stark zurück wie nie zuvor. Das zeigen neue Daten des Vogelschutz-Dachverbands Birdlife International und der Weltnaturschutzunion (IUCN). Danach verzeichnen fast die Hälfte der rund 11’000 Vogelarten auf der Erde weiter starke Verluste. Jede achte Vogelart ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Nur sechs Prozent der Arten weisen steigende Bestände auf.
«Unser neuester Bericht über den Zustand der Vögel der Welt zeichnet das bisher besorgniserregendste Bild von der Zukunft der Vögel und damit des gesamten Lebens auf der Erde», heisst es in dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. Nie zuvor in der mehr als 100-jährigen Erforschung der Vogelpopulationen sei die Lage so dramatisch gewesen. «Wir befinden uns in der sechsten globalen Aussterbewelle und müssen nun entschieden dagegen ankämpfen», sagt Raffael Ayé, Geschäftsführer von Birdlife Schweiz.
USA und Kanada: 3 Milliarden weniger Vögel als vor 50 Jahren
Für die Rote Liste der Weltnaturschutzunion bewertet Birdlife den Zustand der Vogelpopulationen. Der anhaltende Negativtrend, den die Experten feststellen, betrifft alle Regionen der Erde. In Japan etwa brachen die Populationen von Vögeln aller Lebensräume in den letzten 150 Jahren um mehr als 90 Prozent ein. In Afrika bedroht die Aussterbekrise unter Geiern und anderen Greifvögeln immer stärker auch die Gesundheit der Menschen, weil die aasvertilgenden Vögel auch Infektionskrankheiten in Schach halten. In Costa Rica verstummten seit der Jahrtausendwende mehr als 60 Prozent der Vögel in den tropischen Wäldern, und in Australien schrumpften seit der Jahrtausendwende die Bestände von fast der Hälfte der häufigen Seevogelarten.
In den USA und Kanada leben heute dem Report zufolge rund drei Milliarden Vögel weniger als vor 50 Jahren. Das entspricht dem Verlust fast jedes dritten Vogels. Wie das Insektensterben sei der Vogelschwund Zeichen einer globalen Ökologiekrise, warnen US-Wissenschaftler.
Auch Europa bildet keine Ausnahme. Hier sind die Bestände der einst häufigen Agrarland-Vogelarten wie Feldlerche oder Braunkehlchen seit 1980 um fast 60 Prozent eingebrochen. Die Staaten der EU haben innerhalb der vergangenen vier Jahrzehnte 600 Millionen Vögel verloren, das entspricht rein rechnerisch einem Verlust von 40’000 Vögeln pro Tag. Auch in Deutschland ist der Abwärtstrend eindeutig. Mit dem an Meeresküsten lebenden Steinwälzer und dem in Felsen brütenden Würgfalken sind im vergangenen Jahr sogar erneut zwei Arten als Brutvögel in Deutschland für ausgestorben erklärt worden. Ihnen könnten schon bald weitere folgen: 33 Vogelarten rangieren auf der deutschen Roten Liste als «vom Aussterben bedroht».
In der Schweiz stehen 40 Prozent der Brutvogelarten auf der Roten Liste
Noch dramatischer ist die Situation in der Schweiz. Hierzulande stehen 40 Prozent der 205 Brutvogelarten auf der Roten Liste, sind also «gefährdet» oder vom «Aussterben bedroht». «Potenziell gefährdet» sind weitere 20 Prozent der Vogelarten – weltweit sind es 9 Prozent. Besonders stark gefährdet sind – wie in der EU – die Arten des Agrarlands und der Feuchtgebiete. Im Wald geht es den Vögeln gemäss Birdlife Schweiz etwas besser, allerdings mit Ausnahmen.
Der globale Bericht analysiert auch die Ursachen für den globalen Sinkflug der Vögel. Danach ist die Ausdehnung und die Intensivierung der Landwirtschaft die grösste Bedrohung für die Vögel der Welt. Zwei Drittel aller bedrohten Arten litten unter dem Einsatz von Agrochemikalien, der Umwandlung von Grünland in Acker und dem Vordringen der Landnutzung in ihre Lebensräume. Die fortschreitende Abholzung von Wäldern mit einem Verlust von mehr als sieben Millionen Hektaren Lebensraum pro Jahr und der Klimawandel werden als weitere Bedrohungsfaktoren ausgemacht.
Die Intensivierung der Landwirtschaft gilt als einer der Hauptgründe für den Rückgang der Vogelpopulationen. Hier Getreideernte bei Siblingen (SH).
Foto: Keystone
Bei allen Hiobsbotschaften kann der Naturschutz im Kampf gegen das Aussterben auch Erfolge verbuchen. So konnten seit den 1990er-Jahren mehrere Dutzend Vogelarten durch gezielte Schutzmassnahmen vor dem Aussterben bewahrt werden. Und erst im vergangenen Jahr wurde ein Meeresgebiet im Nordatlantik von der Grösse Frankreichs unter Schutz gestellt, nachdem Wissenschaftler entdeckt hatten, dass dort bis zu fünf Millionen Seevögel nach der Brutzeit überwintern.
Die alle vier Jahre herausgegebenen Berichte zur Lage der Vögel gelten als mit die wichtigsten Indikatoren für den Zustand der Natur weltweit. Denn Vögel sind die am besten erforschte und eine der repräsentativsten Gruppen unter allen Tier- und Pflanzenarten. Weil sie für ihr Überleben auf intakte Ökosysteme angewiesen sind und im Jahresverlauf über Kontinente hinweg an verschiedenen Orten leben, gelten sie in der Wissenschaft als ideale Barometer für den Zustand von Biodiversität und die planetare Gesundheit insgesamt.
30 Prozent des Planeten sollen unter Schutz gestellt werden
Der Bericht dürfte damit eine der wichtigsten fachlichen Grundlagen für die Beratungen zum neuen Weltnaturschutzabkommen sein, das im Dezember bei einem Gipfeltreffen der fast 200 Mitgliedsstaaten der UNO-Konvention zur biologischen Vielfalt (CBD) im kanadischen Montreal verabschiedet werden soll.
Auch die Vogelforscher setzen grosse Hoffnungen auf das Montreal-Abkommen. Dort sollen unter anderem Beschränkungen für den Einsatz von Pestiziden festgeschrieben werden. Vor allem das im Entwurf für das Abkommen vorgesehene Ziel, künftig jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter einen wirksamen Schutz zu stellen, wird als Voraussetzung für eine Wende in der Artenkrise angesehen. Die 120 nationalen Birdlife-Mitgliedsorganisationen haben mehr als 13’000 besonders wichtige «Vogel- und Biodiversitätsgebiete» identifiziert, die das Gerüst für ein solches Schutzgebietssystem bilden könnten.
Dem Montreal-Abkommen wird für den weltweiten Schutz von Tieren, Pflanzen und Ökosystemen eine ähnliche Bedeutung zugemessen wie sie das Pariser Abkommen für den Klimaschutz hat. «Montreal muss zum Paris für die Artenvielfalt werden», fordert Konstantin Kreiser vom deutschen Naturschutzbund. «Die Regierungen müssen das Artensterben endlich als das benennen, was es ist: eine Existenzfrage für die Menschheit.»